Da das dort doch sehr viel bessere Wetter als auch mein vereinsamter, bemitleidenswerter Bruder uns mit dem Wunsch eines Wiedersehens förmlich anschreien, müssen wir natürlich in den Osterferien 2023 an die Côte d'Azur fahren. Welch schreckliches Schicksal!
Unbeachtet der offensichtlichen Ironie, ist die Hinfahrt ein Zyklon unter leichten Brisen. Um möglichst schnell aus dem verregneten Deutschland rauszukommen, wollen wir mit dem Flugzeug die Reise antreten. Daher packen wir unsere sieben Sachen und stellen dann erschrocken am Flughafen fest, dass sich das Flugpersonal 2 Stunden vor Abflug lieber in einen eigentlich erst für den Folgetag geplanten Streick frühzeitig verabschiedet. Geschockt, verletzt und am Niagarafälle-Weinen - vielleicht ein bisschen weniger dramatisch - stranden wir also am Flughafen vor dem Check-In-Schalter mit unserem Gepäck. Wir sind nicht die Einzigen, die der Flugausfall überrascht - um uns herum stehen noch andere Familien mit ähnlichen Plänen. Während ich erstmal mit aller Zeit der Welt, wofür brauche ich mich auch zu beeilen, die Musik der Lufthansa-Hotline zum ersten Mal ertönen höre, düst meine Mutter schon ab zum Autoverleih. Warum? Bei Lufthansa werde sowieso niemand rangehen und sie habe das miese Wetter satt. Ersteres bezweifle ich; Letzteres kann ich nicht anfechten. Ich warte daher mit Gepäck und Geschwistern bei den fast schon rostenden Metallsitzen in der Abflughalle und beginne, mich an die Melodie der Lufthansa-Hotline zu gewöhnen. Plan meiner Mutter scheint zu sein, mit dem Auto loszufahren. Die ganze Strecke bis nach Frankreich? Eigentlich mag ich Autofahren überhaupt nicht: Weder als Fahrer, noch als Beifahrer. Wenn wir hier schnell loskommen, könnten wir eventuell noch den Anschlussflug in München erwischen. Plausibel? Unwahrscheinlich. Minuten vergehen und weder die Verantwortlichen bei Lufthansa melden sich, noch taucht meine Mutter wieder auf. Ist Europcar hier überhaupt in der Nähe? Meine Geschwister sind glücklicherweise beschäftigt und kriegen wenig von dem Stress mit. Vielleicht sollte ich losgehen und schauen, ob meine Mutter beim Autoverleih Hilfe benötigt. Lufthansa-Melodiker gehen mir auf den Keks - ich lege auf. Pfosten, da lassen die schon einen Flug mir nichts, dir nichts ausfallen und gehen dann nichtmal ans Telefon. Da taucht meine Mutter mit einem Lächeln im Gesicht wieder auf. Eine gute Nachricht könnte ich gebrauchen. Sie hat ein Auto bekommen können - das Letzte. Passen wir da zu viert rein? Mit Gepäck und allem? Ja, wird schon. Muss halt. Das Auto ist nicht groß, aber wir können uns zusammen quetschen. Mittlerweile ist es kurz vor 17 Uhr. Fahren wir nochmal zu Hause vorbei und schauen nach Alternativflügen? Meine Mutter hat einen genauen Plan: zu Hause vorbeifahren: ja - Alternativen überlegen: nein - Snacks einsammeln, mit dem Auto davonsausen und die 1200km mal ebenso durchfahren: ja. Na gut, vielleicht nicht die ganze Strecke am Stück durchfahren, aber sie ist eine sehr gute Autofahrerin und hochmotiviert. Fantastisch der Spaß kann beginnen.
Wir fahren mit unserem überdurchschnittlich vollgepackten Auto los, gehen zu Rewe, sammeln tonnenweise Eiskaffee und anderweitige koffeinhaltige Getränke ein, besorgen für uns alle natürlich nur gesunde Snacks und auf geht es auf die Piste. Der Start verläuft hochmotiviert: Meine Geschwister sind glücklich, weil sie auf solchen langen Autofahrten Fernsehen schauen und zocken dürfen; meine Mutter ist glücklich, weil sie von den doofen Lufthansa-Leuten, dem doofen Flughafen und dem doofen Deutschland-Wetter endlich wegkommen kann; ich bin glücklich, weil ich die Musik im Auto aussuche und alle sie ertragen müssen. Ein Träumchen.
Zumindest bis Goslar. Oh Gott, wenn ich daran zurückdenke. Was ist mit Goslar los? Die Autobahn ist natürlich, so wie jede andere Autobahn in Deutschland, nicht baustellenfrei und logischerweise erwarten wir Reisende auf einem Trip quer durch Deutschland auch nicht, in einem Stück problemlos durchzukommen. Aber eine 20km lange Vollsperrung der Autobahn mit einer 60km langen Umleitung quer durch die 14-Menschen-Dörfer im Harz, die 2,5 Stunden in Anspruch nimmt, erwarten wir nicht. Hm, mist. Die Motivation sinkt entsprechend. Auch Cro kann über die Musikanlage des Autos nicht helfen, obwohl er sein Bestes gibt und ich wirklich alles in dem Moment hören kann, solange es nicht die Lufthansa-Hotline-Melodie ist. Uns beschleicht der Gedanke, umzukehren und die Fahrt sein zu lassen. Aber: Wir müssten diese miese Umleitung wieder genauso zurückfahren. Haben wir darauf Lust? Nein. Ist das Wetter in Südfrankreich so viel besser als in Deutschland, sodass sich eine unglaubliche lange Autofahrt lohnt? An sich, ja. Können wir mit Willenskraft all unsere Ziele erreichen? Ja. Motiviert uns das? Nein. Ein wenig, vielleicht. Wir fahren weiter. Mittlerweile ist es 21 Uhr. Wir sind aber weit gekommen seit wir losgefahren sind. Cro ist zu sentimental, wir machen Rihanna an: sie hilft immer. Außerdem: Koffein-Getränke. Die geben schließlich den nötigen Motivationsschub und wir, eigentlich meine Mutter, hauen die nächsten Kilometer davon. Es wird später und später - die zu fahrenden Kilometer werden weniger und weniger. Mein Plan für die Hinreise war ursprünglich, soviel an meiner anstehenden Facharbeit zu schreiben, wie nur irgend möglich - leider nur fühlt sich mein Magen beim Autofahren sowieso nie am wohlsten, daher probiere ich jegliche sich negativ auf ihn auswirkenden Reise von ihm fernzuhalten. Spoiler: Hat die gesamte Fahrt über funktioniert. Entsprechend führen meine Mutter und ich Gespräche über Gott und die Welt, während meine Geschwister auf der Rückbank so langsam einschlafen. Allen gehts super.
Schließlich erreichen wir gegen 01:30 Uhr morgens die Grenze nach Österreich. Erst da fällt uns auf, wie spät es eigentlich ist. Einerseits freuen wir uns, endlich Kilometer runterbekommen zu haben. Andererseits wissen wir, dass uns die langen Pässe durch die Alpen noch bevorstehen, die, so schön sie auch bei Tageslicht aussehen, bei Nacht wirklich kein Spaß sind. Wir haben zu Beginn einige Telefonate mit besorgten Familienmitgliedern geführt, die sich um eventuelle Schlafdefizite, die Distanz und eine Koffein-Sucht sorgten. Letzteres ist ja mal absolut hinfällig. Dennoch überlegen wir: Sollten wir uns noch ein Hotel für den Rest der Nacht buchen? Meine Geschwister schlafen sowieso - die bräuchten keins. Ich hab mir vorgenommen, durchgängig wach zu bleiben, solange meine Mutter fährt. Braucht sie eine Pause? Nein, passt schon. Läuft vom Fahren her gerade super, die Straßen sind vergleichsweise leer: Das müsste man ausnutzen. Noch ein Eiskaffe? Immer gerne. Koffein-Boost. Wir entscheiden uns gegen das Hotel. Plan: San Bernadino-Pass und dann eine Schlaf-Pause im Auto auf dem nächsten Rastplatz. Super Idee, auf geht‘s. Wir sind mittlerweile in der Schweiz, die Einfahrt zum langen Bernadino-Pass ist vor uns. Es ist kurz vor 3 Uhr, wir halten uns tapfer. Problem: Die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Schweiz und vor allem solche, die in den Tunneln gelten. Dazu muss gesagt werden: Ich bin im Naturschutz aktiv, entsprechend auch für Geschwindigkeitsbegrenzungen. Unser Bedenkpunkt in dem Moment: 50 in einem sonst leeren, 9km langen Tunnel um 3 Uhr nachts zu fahren, ist nicht lustig. Wir halten uns wach, aber bemerken einen Anflug von Schläfrigkeit. Den doofen Tunnel schaffen wir, danach kommt bestimmt eine Raststätte. Denkst du. Falsch gedacht. Es geht erstmal weitere 30km nach dem Pass so einen komischen Hügel runter. Die Aussicht von dort ist fantastisch - bei Tageslicht. Um inzwischen 4 Uhr morgens sieht man nichts. Nada. Ein paar Lichter, die von Häusern am Berghang kommen, sehen amüsant aus, weil der Hintergrund fehlt. Außerdem auffällig: Der Sternenhimmel ist phänomenal gut zu erkennen, sehr erfreulich. Ich bin sehr an Astrophysik interessiert und kann am Himmel stolze drei Sternenbilder entdecken. Demnächst leihe ich mir ein Buch über Sternenbilder in der Bibliothek aus und werde meine Kenntnisse erweitern. Irgendwo am Ende der Welt, auch genannt Schweiz, kurz vor Italien kommt eine Tankstellen. Good to know: Anscheinend gibt es auf unserer tollen Schweiz-Route auf Grund von - Überraschung - Baustellen aktuell auch nur 3 Tankstellen. Ich muss an dieser Stelle noch erwähnen, dass meine Mutter die Serpentinen meisterhaft überwunden hat. Bis heute bin ich beeindruckt, wie sie diese engen Kurven um 4 Uhr morgens gemeistert hat. So eine Heldin.
An der 3. Tankstelle auf unserer mit viel Intelligenz ausgewählten Strecke durch die Schweiz halten wir und ruhen uns von 4:30 Uhr an ca. 3 Stunden aus. Ich kann leider in dem Moment nicht gut schlafen, liegt bestimmt nicht am Koffein. Meine Mutter hingegen schon, sodass sie rechtzeitig zum Sonnenaufgang ein Baguett von der Tankstelle und - Überraschung #2 - Kaffee mitbringt. Meine Geschwister schlafen immernoch. Mittlerweile, wo die Sonne aufgetaucht ist, kann man auch die Berge erkennen. Sieht ganz nett aus. Wir haben an sich die Alpen schon hinter bzw. neben uns gelassen - die müssen sehr schön aussehen. Wir könnten die Strecke aus Spaß auch einfach nochmal fahren? Nicht lustig, okay. Die Fahrt geht weiter. Endlich in Italien, da hat man wieder EU-Roaming-Tarife. Die Schweiz ist da sehr teuer. Jetzt können wir auch googeln, wo und wann die nächsten Tankstellen sind, theoretisch. Brauchen wir aber gar nicht, wir sind fit wie Turnschuhe. Meine Mutter zumindest, um Mailand herum merke ich, dass mir tatschächlich ein wenig Schlaf fehlt. Ich probiere mich wach zu halten, aber bin dann doch für eine Stunde weg.
Besonders motivierend ist der Moment, in dem wir zum ersten Mal das Mittelmeer sehen können. Zu diesem Zeitpunkt ist es ca. 9:30 Uhr, uns fehlen nur noch um die 200km. Super, wir sind glücklich. Darauf noch ein Kaffee. Meine Geschwister sind mittlerweile auch wach und schauen weiter ihre Serien. Super, die sind glücklich. Tatsächlich passiert nichts weiter nennenswertes auf der Fahrt, bis auf das Telefonat, was wir gegen 10:30 Uhr mit meinem Vater führen. Der weiß natürlich noch nicht, das wir die halbe Nacht durchgefahren sind. Er findet diese Information auch nur halb so erfreuenswürdig und schön, wie wir und macht sich mehr Sorgen um sowohl unseren physischen als auch mentalen Gesundheitszustand. Sein genauer Wortlaut ist: „Seid ihr denn bescheuert?“. Unsere Freude über das sich enorm verbesserte Klima im Vergleich zu dem Deutschen kann ihn zwar nicht beruhigen, uns geht es aber fantastisch. Gegen 12 Uhr passieren wir die italienisch-französische Grenze und sind damit offiziell an der Côte d‘Azur. Sehr erfreulich.
Gesamtbilanz: 1200km in legendären 15 Stunden. Im Vergleich dazu: Der nächste Flieger, den wir von egal welchem Flughafen in unserer Umgebung hätten nehmen können, wäre ca. 6-8 Stunden später als wir an der Côte d‘Azur angekommen. Was lernen wir daraus? Nicht mit dem Flugzeug fliegen: Nicht gut für die Umwelt, teuer und stressig. Autfahren ist umwelttechnisch (je nachdem, mit welchem Auto man fährt) auch nicht der Hammer, daher ist meine generelle Reiseempfehlung, die Bahn zu nehmen, aber immerhin sind wir angekommen.
Fun fact zum Schluss: Die Lufthansa hat sich dann irgendwann bei uns gemeldet. Ihr Angebot sah so aus, dass wir einen Flug hätten nehmen können, der 5 Tage nach unserem eigentlich gebucht ging. Freundlicherweise haben sie sich dazu bereit erklärt, die anfallenden Kosten für einen Reisetag zu übernehmen.